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Gedanken zwischen den Jahren 😇 💙 Eine Reflexion von unserer Pfarrerin Angelika Richter

Es gibt sie fast in jedem Haushalt: die Kramschublade. Mal größer, mal kleiner findet man darin Brauchbares, Kaputtes und Dinge mit dem Titel „Ich weiß (noch) nicht, wohin damit“. Sogar die Aufräumprofis raten dazu, so eine Schublade beizubehalten. Da wohnt der Holzhirte mit abgebrochenem Fuß, die Postkarte, die ein Schmunzeln auf das Gesicht zaubert, und das fast vergessene Rezept (zum sofort Ausprobieren). Auch verstaubte Korken oder ein kleiner Engel

So klein wie ein Streichholz

Dieser hier ist ein bisschen größer als eine Streichholzschachtel. Seine Flügel und sein Körper sind aus Glasstücken zusammengesetzt. Sie sind mit Silberdraht verlötet. Er ist so klein, dass er mühelos in jede Handfläche passt. Eine weite Reise hat er hinter sich, er kommt aus Bethlehem. Der Engel aus Glas ist ein sogenannter Scherbenengel.
Seine Geschichte begann vor etwa 20 Jahren. Damals waren die Straßen von Bethlehem voller Glasscherben. Die Stadt hatte gelitten unter Panzerbeschuss und Luftangriffen. Eine Welle der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern hatte sich über der kleinen Stadt entladen. Häuser wurden zerstört, kaputte Fensterscheiben lagen auf den Straßen, Zeichen für Krieg und Zerstörung. Irgendjemand begann, die Scherben aufzusammeln. Sie wurden sortiert, gereinigt und geschliffen. 

Zeichen des Friedens

In christlichen Begegnungszentren wurden sie kunsthandwerklich verarbeitet und sorgsam eingefasst. Aus Scherben wurden Engel, - bunte Figuren, Symbole der Hoffnung und des Friedens.  Per Post landeten die kleinen Friedensbotschafter in der ganzen Welt. Heute gibt es sie immer noch in einem kleinen Laden in der Altstadt von Bethlehem zu kaufen. 
Gut ist die Lage dort noch lange nicht. Eine große kahle Betonmauer verläuft mitten durch die Stadt und erinnert daran, wie weit der Frieden entfernt ist. Die Scherbenengel sind dagegen verschwindend klein. Aber es gibt sie. Und sie sind bunt. Wie Hoffnungszeichen. So erzählt es Iris Macke.

Die Zeit am Jahresende

Die Tage „zwischen den Jahren“ sind für mich etwas Ähnliches wie eine Kramschublade. Vieles geht mir durch den Sinn in Erinnerung an dieses Jahr, das fast zu Ende ist: Ereignisse im Großen global Weltzusammenhang und im Kleinen, in meinem persönlichen Leben.
Scherben gibt es, Schmerzliches, Versäumtes, Verluste, Bedrohliches und Verletzliches. Und Gutes, Mutmachendes, Heilsames, Verbindendes, Fröhliches und Hoffnungsvolles gibt es auch. 
Und Überraschendes, wie unerwartetes Engagement, Kreativität, mutiger Protest und Einsatz für andere und für die Erde, - im Kleinen wie im Großen.

Kleiner Begleiter

Einen Glasengel hatte ich geschenkt bekommen kurz vor meiner Reise nach Portugal, er begleitet mich hier. Erst jetzt habe ich erfahren, dass es ein Scherbenengel ist. „Zwischen den Jahren“ haben Scherben und Kunstwerke Platz, Altes und Neues gehören dazu. Auch Zweifel und Glaube. Und manchmal ein Gebet beim „Kramen“ in dem Jahr 2021.
Bewahrung und Segen wünsche ich Ihnen, und einen echten oder auch in Gedanken ausgemalten Scherbenengel.

Angelika Richter, 
Pfarrerin der deutschsprachigen evangelischen Kirchengemeinde in Porto