„Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin
und jage die letzte Süße in den schweren Wein...“
(„Herbsttag“, Rainer Maria Rilke)
Liebe Leserin, lieber Leser,
Für mich gehört das obige Gedicht zum Herbstanfang, fängt es doch die Stimmung des Herbstes sehr schön ein. Zwar nicht so ausgeprägt wie in Deutschland, spüren wir aber doch auch in Portugal den ausgehenden Sommer: Ein wunderbares Schauspiel der Natur, in das sich aber auch wehmütig der Gedanke des Abschieds mischt.
Seit jeher hat der Mensch den Jahreslauf als ein Bild für das eigene Leben verstanden: Werden, wachsen, reifen und vergehen.
Um im Bild zu bleiben: Wir können den Herbst des Lebens als eine Zeit verstehen, in der wir ernten. Wir haben ausgestreut und nun, nachdem es gereift ist, wird geerntet. Rilkes Worte aufgreifend könnte man sagen, wenn der Sommer groß war und reich, dann ist es auch der Herbst.
Es ist ein schönes Bild, in das wir hineinwachsen können. Dazu gehört, dass wir uns einüben ins Loslassen und dabei nicht wehmütig werden.
Wen in diesen Tagen dann aber doch die Traurigkeit über das Vergehen überkommt, der denke daran, dass die süßen Früchte nur zu haben sind, wenn wir den Gärungsprozess bejahen. Die volle Reife erlangen sie erst kurz vor dem Vergehen. Und auch die Farbenpracht an den Bäumen ist nur von kurzer Dauer, auch sie ist dem Vergehen unterworfen.
Beides, Werden und Vergehen, wird uns von der Schöpfung vorgelebt. Doch nur der Mensch allein kann es sich bewusst machen. Und wie kein Blatt wieder an den Baum zurückkehrt, wird auch der Mensch nicht zurückkehren. Ein einmaliges Leben ist uns geschenkt, und in seiner Einmaligkeit ist es unendlich kostbar. Deswegen dürfen wir es in seiner ganzen Fülle leben und genießen - auch den Herbst des Lebens. In ihm verdichten sich noch einmal Frühling und Sommer zu einer Farbenpracht und Fülle.
Auch daran denke ich am Erntedanktag und danke Gott aus vollem Herzen dafür.
Ich wünsche Ihnen und euch allen einen sonnendurchleuchteten Herbst und grüße herzlich!
Bleibt, bleiben Sie behütet!
Ihre/ eure Pastorin Ute Clamor
Ihre/ eure Pastorin Ute Clamor